Gesellschaftlich wird das Aufwachsen eines Kindes meist mit der Erziehung und der Weitergabe von Wissen, Verhaltensweisen und Regeln durch die Erwachsenen verbunden. Mal abgesehen davon, dass ich mit der landläufigen Art der „Erziehung“ nicht so viel anfangen kann, bin ich immer wieder überrascht, was den Punkt der Vorbildrolle anbelangt. Nachdem unser Sohn in Kürze fünf wird, muss ich nämlich feststellen: bei vielen Dingen ist es eher umgekehrt, ich kann viel von ihm lernen und tue das fast täglich.
Erziehung wird in der Praxis oft für etwas verwendet, was eigentlich durch „Vorbildfunktion ausüben“ ersetzt werden sollte. Jesper Juul drückt das immer wieder sehr treffend aus, so auch in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
„Das Allermeiste, was wir unter Erziehung verstehen, erzieht in der Tat kaum. Wie sich unsere Kinder als 20-Jährige verhalten, ist nicht die Folge der Erziehung, sondern unseres Zusammenlebens in der Familie. Wir sind Vorbilder, gute und schlechte, 24 Stunden am Tag.“
Jetzt drehen wir den Spieß um, dann sieht man, dass Kinder auch sehr gute Vorbilder für Erwachsene sein können. Ich habe durch unseren Sohn in seinen fast 5 Lebensjahren schon vieles gelernt.
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Ein Stativ für den Fotoapparat – klingt jetzt nicht gerade nach dem perfekten Spielzeug. Einem 4-jährigen fallen aber viele Nutzungsmöglichkeiten ein, die mit dem eigentlichen Sinn nur wenig zu tun haben. Die Verpackung von etwas Neuem wird von uns meist umgehend entsorgt – unser Sohn aber liebt es, den Inhalt immer wieder zu verpacken und fotografiert das dann entstandene Werk. Und zwar nicht nur einmalig, sondern manchmal über mehrere Tage verteilt. Oder die Freude in den Augen eines Kindes, wenn es ab und an ein leckeres Eis isst – unbezahlbar!
Wenn man versucht das Umfeld durch die Augen eines Kindes zu betrachten, ergeben sich oftmals völlig neue Perspektiven. Ist das nicht herrlich, anstatt alles als gegeben und festgelegt hinzunehmen.
Eine neue Sprache lernen, nichts einfacher als das. Zahlen lesen und schreiben, damit man die Startnummern von Rennwagen im Cars Film zuordnen kann, man muss nur wollen. Mit 4,5 das Fahren mit Rollerblades angehen – na klar!
Ein besonders schönes Beispiel im Leben von Liam ist das Fahrradfahren. Ab seinem 13. Monat war er fixiert auf zweirädrige Untersätze wie sein Laufrad. Bald kam es soweit, dass wir ihm eines mit Bremsen besorgen mussten, da kein Hügel zu hoch war um herunterzufahren – nur das Bremsen mit den Beinen war nicht immer so einfach. Als er dann 2 Jahre und 7 Monate alt war wollte er unbedingt Pedale an sein Laufrad haben. Jedes Fahrrad wurde begutachtet und die Pedale bestaunt.
Wir haben auf ihn gehört und die Pedale montiert. Anfänglich noch etwas wackelig, ist er nach weniger als 15 Minuten um den Block geradelt, ohne einen einzigen Sturz. Der kam sogar erst Monate später. Einfach dem Kind vertrauen öffnet neue Horizonte und Kinder, die Entscheidungen treffen dürfen sind auch in der Lage abzuschätzen, was schon möglich und was noch zu gefährlich ist.
Ein kleineres Kind, dass nicht alleine von der Kletterburg kommt – ohne Intervention von außen ergreift er die Initiative und reicht dem Mädchen beide Hände zur Hilfe. Er führt sie 30m weit über Hängebrücken und wackligen Untergrund – und die letzte Etappe, eine Leiter mit großem Sprossenabstand, überwinden die beiden, indem er das Mädchen einfach runterträgt. Die Mutter kam eine Weile später und berichtete mir, dass sie ganz gerührt und begeistert war, von seinem liebenswürdigen und umsichtigen Handeln. Liam lächelte, wunderte sich aber sogar ein wenig, was daran besonders sein soll, für ihn war es einfach eine selbstverständliche Handlung.
Ähnliche Situationen ergeben sich häufig und ich freue mich jedes Mal darüber, dass Hilfe für ihn etwas so naheliegendes ist.
Gerade Deutsche sind nicht gerade bekannt dafür, offen auf anderen Menschen in der Öffentlichkeit zuzugehen. Ein Freund von uns aus den USA besuchte uns schon mehrfach in München, und irgendwann kam die Frage: „Wir lernt man hier denn eigentlich neue Menschen kennen? Ihr redet ja nicht miteinander!“ Wie wahr.
Aber wenn dann so ein kleines Kind, offen und ohne Vorbehalte gegenüber Äußerlichkeiten oder Alter, auf Fremde zugeht, sie anstrahlt und einfach drauf los erzählt – die Reaktionen sind zumeist herzerwärmend, wenn die erste Überraschung überwunden ist. Ob das jetzt der Unbekannte auf der Sitzbank gegenüber in der U-Bahn ist, die Dame hinter ihm in der Schlange im Supermarkt oder auch der eigentlich verschlossene und abweisende 13-jährige – innerhalb weniger Sätze bricht die harte Schale bei den meisten Menschen auf und es entstehen oft wunderbare Dialoge. Wenn dann auch noch ein „Schön dich kennengelernt zu haben“ zum Abschied kommt, von unserem Sohn wohlgemerkt, dann wissen wir, dass mindestens ein Beteiligter die Begegnung genossen hat.
Und ganz nebenbei, natürlich macht es für ihn auch keinen Unterschied, welche Hautfarbe der Gesprächspartner hat oder welche Sprache er spricht – im Zweifel freut er sich einfach, wenn er in München mal wieder Englisch sprechen „muss“ oder in Thailand jemanden antrifft, der Deutsch kann.
Durch unsere relativ häufig wechselnden Lebensorte, ändern sich natürlich auch die Rahmenbedingungen immer wieder. Andere Menschen, andere Aktivitäten und andere Fortbewegungsmittel. Aber unser Sohn genießt in München Fahrten mit der Straßenbahn, in Bangkok mit dem Tuktuk und in Pai mit unserem Roller oder im Auto. In München gibt es Brezen, in Pai Sticky Rice oder Fleischbällchen als Snack. Spielplätze in Deutschland sind super, im Bach spielen und durch Reisfelder laufen der gleichwertige Ersatz dafür in Pai.
Er fängt zwar inzwischen an, Vergleiche zu ziehen, die auch durchaus Bewertungen enthalten – aber es kommt kein Wehmut auf, sondern das Vorhandene wird einfach genutzt, genossen und nicht weiter in Frage gestellt.
Die offene und freundliche Art unseres Kindes, gerade bei Fremden führt aber manchmal auch zu Momenten, in denen man sieht, dass nicht jeder so denkt und sich das erhalten hat. Erst kürzlich hatten wir wieder so einen Fall. Wir sitzen im Café eines Freundes, da sprach uns eine Dame aus 5 Metern Entfernung an. Ohne Blickkontakt oder eine Begrüßung und in einer recht unfreundlichen Tonlage kam plötzlich: „Wie heisst du?“ Liam sagte ihr seinen Namen dann mehrfach, sie verstand ihn nicht und ich wiederholte es noch einmal – ein unmotiviertes Nicken, mehr nicht. 20 Sekunden später, gleiche Tonlage: „Wie alt bist du?“
„Ich bin 4, aber am zwölften September werd ich 5!“ Freude in seinen Augen, er freut sich seit Monaten auf dieses Ereignis. Die Antwort der Dame: „Na das kann ja so nicht stimmen!“ Abgehackt, unfreundlich und direkt wieder abgewandt – als Spaß meinte sie das nicht, wie sich zeigte!
Holla, das hat gesessen, Liam sah mich an und war sichtlich erschrocken. Ich schaltete mich dann ein und sagte zu unserer Gesprächspartnerin, dass das alles so stimme, ganz wie Liam es gesagt hatte. Und sie wieder: „Na wenn sie meinen…!“
Sagen wir es mal so: wäre es nicht das Café eines Freundes gewesen, das Gespräch wäre nicht beendet gewesen, so hab ich nur den Kopf geschüttelt und Liam gesagt, dass er der Frau nicht mehr antworten muss, wenn er nicht will. Damit war das Thema für ihn aber noch nicht erledigt, wir mussten das auch noch mit der Mama besprechen, beim Zusammentreffen einige Stunden später. Ein Einzelfall war das leider auch nicht.
Noch prekärer ist es, wenn er offen ausgeschlossen wird von anderen Kindern, was uns so leider nur in München passiert. Gründe dafür gibt es einige, von er sei “zu jung” über er sei ja “nur ein Junge” oder er habe nicht die selbe Weste (oder Uniform?) an, wie bei manchen Kita-Gruppen auf dem Spielplatz. Exklusion fängt offenbar schon früh an, die Gründe sind nicht nur für ihn sehr irritierend und verstörend. Als dann auch noch drei Jungs, die zuvor noch mit seinem Fußball mitspielen durften, trotz zweifachem Versuch auf seine Verabschiedung (“Schön, euch kennengelernt zu haben, vielleicht sehen wir uns ja morgen wieder”) überhaupt nicht reagierten, fragte er mich mit Tränen in den Augen, warum die denn nicht wenigstens „Tschau“ sagen können. Ich habe da so meine Theorien, diese zu vermitteln ist aber sehr schwer. Und akzeptieren kann und will ich es ebensowenig wie er.
Um auf das einführende Zitat von Jesper Juul zurückzukommen, ein wenig Stolz kommt dann doch irgendwie auf. Denn wenn es tatsächlich so ist, dass ich als Vater ihm das ein oder andere Mal ein “gutes Vorbild” war, dann habe ich ja auch einen kleinen Anteil daran, dass ein so großartiger kleiner Mensch heranwächst. Und spätestens dann ist mein Gefühl von großem Stolz auf ihn und noch größerer Freude und Zuversicht geprägt!
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